Problemräume und Challenges
Alltagsleben
Alltag, wie er heute gestaltet ist, geht mit Behinderungen für viele Menschen einher, macht diese damit zu Menschen mit Behinderung.
Selbstverständliche Dinge wie Einkaufen, sich im sozialen Raum bewegen oder das Kommunizieren mit Anderen sind mit speziellen Hürden versehen. Ein eigenständig gestaltetes Leben scheitert oft an fehlender Barrierefreiheit.
Die Corona-Pandemie verschärft dies noch. Auch Du hast bestimmt schon Kommunikationsbarrieren überwinden, mit sozialer Isolation umgehen müssen oder mit den Tücken des digitalen Arbeitslebens gekämpft. Vor Menschen mit Behinderung türmt sich dies als zusätzlicher Berg an Hindernissen bei der Gestaltung eines eigenständigen Lebens auf.
Schaffen wir es gemeinsam, diese Alltagsbehinderungen abzubauen?
#1 Alltag mit leichter Sprache bewältigen
Leichte Sprache ist ein wichtiges Werkzeug, alltägliche Behinderungen abzubauen und Menschen mit Behinderung zu ermöglichen, sich eigenständig bewegen, vorsorgen und mitteilen zu können. Überall. Im Supermarkt, an der Tankstelle, in der Behörde….
Stell Dir vor, Du könntest beim Einkaufen nicht lesen, was in einem Lebensmittel drin ist, oder der Beipackzettel eines Medikaments ist unverständlich, oder der Verwaltungsakt ist unendlich kompliziert. Die Schrift zu klein, der Satz zu lang, ein Wort zu kompliziert, schon bauen sich unüberwindbare Barrieren auf.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass leichte Sprache so zum Einsatz kommt, dass Alltagsbewältigung mit möglichst geringer Behinderung möglich wird?
#2 Soziale Kontakte auch digital intensiv, barriere- und belastungsarm erleben
Corona hat „echte“ Kontakte vielfach durch digitale Interaktion ersetzt. Auch Du kennst bestimmt dieses Gefühl: „Da fehlt doch was! Ist das denn Alles?“ Körperkontakt entfällt. Der Austausch durch Gestik und Mimik ist sehr reduziert.
Soziale Kontakte werden durch die eingesetzten Medien auf Bild und Ton reduziert. Dies belastet Menschen mit psychischen Behinderung mental besonders. Bei Angststörungen entstehen neue Barrieren bei der Kontaktaufnahmen. Menschen mit körperlicher Behinderung, wie etwa Lähmungen oder eingeschränktem Sehvermögen erfahren ebenfalls neue Einschränkungen.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderung soziale Kontakte im digitalen Raum möglichst intensiv erleben, und die psychischen und körperlichen „Nebenwirkungen“ möglichst gering ausfallen?
#3 Im digitalen Raum selbstständig
unterwegs sein
Die digitale Welt ist voller Risiken. Du kennst Sie auch: die Abofallen, die schnell getätigten In-App Käufe, Cybermobbing oder der Virus, der im Mailanhang lauert. Fehlende Übung im Umgang mit neuen Geräten und Programmen schafft zusätzliche Barrieren bei der Orientierung und Bewegung im digitalen Raum. Nicht zu vergessen, auch in der digitalen Welt ist leichte Sprache nicht an der Tagesordnung.
Wie damit umgehen? Zugriffs- und Bewegungsrechte im digitalen Umfeld werden für Menschen mit Behinderung oft eingeschränkt, u.a. in der Sorge vor Zweckentfremdung der bereitgestellten Infrastruktur. Aber ist Bevormundung tatsächlich der richtige Weg zur Eigenständigkeit und digitalen Teilhabe?
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderung sich im digitalen Raum besser orientieren und selbstständig bewegen können ohne sie zu bevormunden?
Umsetzung des Gesetzes
Das neue Gesetz gibt Menschen mit Behinderung ganz neue Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu gestalten. Sie und ihre Wünsche sollen im Zentrum stehen.
Das fängt mit dem Gesamtplan an, dem Rahmen zur eigenen Lebensgestaltung. Eigene Ideen und Vorstellungen sollen dabei im Mittelpunkt stehen – für Dich ganz selbstverständlich – und nicht fremde Vorstellungen, was denn gut sei. Das wäre Bevormundung.
Eigenständig sollen auch die Leistungen beschafft werden. Nicht ganz einfach, wenn das Geld knapp ist und Instrumente zur Budgetverwaltung fehlen. Und schließlich ist auch eine Kundenbewertung vorgesehen. Menschen mit Behinderung sind gefragt, bei der Leistungsdokumentation mitzuwirken, etwas was Du von Hotelportalen, Online-Shops nur zu gut kennst, bisher für Menschen mit Behinderung so aber nicht vorgesehen war.
Sorg mit dafür, dass diese Werkzeuge unterstützen und nicht behindern oder bevormunden!
#4 Das eigene Leben in die Hand nehmen
– mit einem guten Gesamtplan
Ein guter Gesamtplan sorgt dafür „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zügig, wirksam, wirtschaftlich und auf Dauer zu ermöglichen“. Ziele für das eigene Leben und dafür nötige Unterstützungsleistungen sollen verbindlich festgeschrieben werden.
Klingt ganz schön kompliziert, oder? Damit Menschen mit Behinderung dabei nicht den Überblick verlieren, gibt es unabhängige Beratungsstellen (EUTBs). Das ist vergleichbar damit, wenn Du eine Versicherung brauchst und erst einmal eine unabhängige Beratung suchst.
Nicht alle EUTBs wissen bei jeder Behinderung allerdings richtig Bescheid. Und Menschen mit Behinderung sind auch keine Profis in der Erstellung von Gesamtplänen. Das Gegenüber – der Finanzier aber schon. Schnell kommt dann doch wieder der Leistungserbringer mit seinem Wissen (die Versicherung) ins Spiel. Damit ist die Beratung dann schließlich doch nicht mehr unabhängig.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass Informationen für Berater:innen und Menschen mit Behinderung so zugänglich sind, dass gute und unabhängige Gesamtpläne entstehen.
#5 Das eigene Budget verwalten
Menschen mit Behinderung sollen ihr Budget für Teilhabeleistungen selber verwalten. Das Geld wird allerdings nicht direkt auf‘s Konto überwiesen. Stattdessen können die im Gesamtplan beschriebenen Leistungen bei verschiedenen Anbietern (=Leistungserbringer) gebucht werden.
Das ist in etwa so wie bei einem Voucher, mit dem man bestimmte Leistungen einkaufen kann. Jetzt stell Dir vor: dieser Voucher wird nicht direkt eingezogen. Dann kannst Du mehrfach einkaufen. Bis es jemand merkt.
So ist das aktuell: zum Buchungszeitpunkt ist unklar, ob das Budget tatsächlich noch ausreicht. Dies kann entweder zu finanziellen Verpflichtungen des Menschen mit Behinderung führen oder – bei Vorleistungen – zu einem Zahlungsausfall beim Leistungserbringer. Nicht ganz einfach – für alle Beteiligten!
Unsere Challenge daher:
Wie können wir Menschen mit Behinderung befähigen, ihr eigenes Budget zu verwalten ohne dass übermäßige wirtschaftliche Risiken für irgendjemanden entstehen? Wie kann eine Lösung aussehen, die selber eine Leistung zur Teilhabe ist, m.a.W. über das Budget finanziert werden kann?
#6 Bewertung zur Wirksamkeit der Leistungen abgeben
Die Wirksamkeit von Leistungen zur Teilhabe soll überprüft werden. Wurden die Teilhabeziele erreicht? War die Leistungserbringung gut? Solche Fragen sollen beantwortet und in der Leistungsdokumentation festgehalten werden. Das ist ungewohnt für alle Beteiligten.
Stell Dir vor. Du hättest damals in der Schule Deine Lehrer:innen plötzlich direkt bewerten sollen. So in etwa ist das jetzt in den Einrichtungen der Eingliederungshilfe.
Ganz ohne Probleme funktioniert das nicht. Die Zeit der Betreuer:innen ist beschränkt. Daher wird selten proaktiv auf die Menschen mit Behinderung zugegangen. Auch wissen Menschen mit Behinderung oftmals gar nicht, dass sie ein Recht auf Einsichtnahme in die Leistungsdokumentation und einen Anspruch auf Mitwirkung haben. Auch nicht einfacher wird es dadurch, dass die Leistungsdokumentation stärker digitalisiert werden soll.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderung Zielerreichung und Leistungserbringung bewerten und dies in die Leistungsdokumentation einfließt?
Umfeld
Immer wieder erlebst Du Strukturen und Prozesse, mit denen Du kämpfen musst, sei es die Hotline eines Online-Shops, ein Versicherungsformular oder die neueste Corona-Verordnung. Ohne jemanden, der Bescheid weiß, geht es da oft nicht weiter.
Deswegen ist es wichtig, dass Bezugspersonen behinderter Menschen digital fit sind, denn digitale Kompetenzen sind unglaublich wichtig geworden, um eigenständig klar zu kommen.
Und damit es gar nicht erst zu kompliziert wird, sollten Menschen mit Behinderung bei der Gestaltung des betrieblichen und öffentlichen Raumes gefragt und beteiligt werden, damit Barrieren so klein wie möglich ausfallen.
Hast Du Ideen, wie wir konkret schon bei der Gestaltung des Umfeldes ansetzen können?
#7 Digitale Fitness von Lehrenden und Betreuer:innen ausbauen
Lehrende und Betreuer:innen in der Eingliederungshilfe müssen – wie wir alle – coronabedingt verstärkt digital arbeiten. Sie sind jedoch nicht darin geschult, ihre Rollen digital auszufüllen. Es fehlen digitale Kompetenzen und Qualifikationen, die die erforderliche Unterstützung der Menschen mit Behinderung in dieser neuen Situation gewährleisten.
Zudem besteht bei Lehrenden und Betreuer:innen oftmals eine Distanz gegenüber digitalen Werkzeugen. Die direkte Interaktion mit Menschen war für viele ein ausschlaggebender Grund für ihre Berufswahl. Gerade diese direkte Interaktion wird nun aber durch Computerarbeit am Schreibtisch im Büro ersetzt.
Im Ergebnis ist die Anwendung digitaler Instrumente sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es in einer hybriden Welt mit großen digitalen Anteilen schaffen, dass Betreuende und Lehrende ihre Rollen kompetent und zufriedenstellend sowie ohne Bevormundung der Menschen mit Behinderung ausfüllen?
#8 Arbeitswelt mitgestalten
Menschen mit Behinderung haben vielfach ein eingeschränktes Wissen über ihre Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten zur Gestaltung ihrer Arbeitswelt. Konkrete Ideen werden oftmals nicht gehört und fließen somit nicht ein. Durch dieses Nichtwahrnehmen wird die Unsicherheit/ Zurückhaltung der Betroffenen noch gesteigert und ein Einbringen der eigenen Ideen weiter ausgebremst.
Die Gestaltung ihrer Arbeitswelt basiert demnach auf bevormundenden Entscheidungen und eine Mitgestaltung findet nicht ausreichend statt.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderung aktiv und ohne Bevormundung zur Gestaltung ihrer Arbeitswelt beitragen?
#9 Selbstbestimmt die eigene Meinung äußern
Strukturen und Personen gehen oft mit starker Bevormundung von Menschen mit Behinderung einher, d.h. sie schaffen bzw. verstärken Behinderungen bei der Gestaltung des eigenen Umfeldes. Dies wiederum fördert Unsicherheit bei den Betroffenen, für sich selbst einzustehen. Im Ergebnis lernen viele Menschen mit Behinderung nicht oder nur eingeschränkt ihre Meinung zu äußern.
Ein Teufelskreis, der letztlich dazu führt, Barrieren zu erhalten.
Unsere Challenge daher:
Wie können wir es schaffen, dass Menschen mit Behinderung im geschützten und öffentlichen Raum proaktiv ihre Meinung zur Gestaltung ihres eigenen Umfeldes äußern?